Corona und Proteste in Serbien

Interview mit einem linkskommunistischen Genossen aus Belgrad

Anfang Juli flammten in Serbien kurze, aber recht vehemente Proteste gegen die nationalkonservative Regierung unter dem Autokraten Aleksandar Vučić auf. Da diese in den deutschsprachigen Medien sofern sie überhaupt Beachtung fanden großteils bloß als Anti-Lockdown-Proteste rezipiert wurden, entschlossen sich Hamburger GenossInnen damals, dieses Interview mit einem Linkskommunisten aus Belgrad zu führen, um eine differenziertere Perspektive auf die Geschehnisse vor Ort einzuholen. Es ergab sich das Bild einer diffusen Bewegung, die sämtliche Gegner*innen der Regierung auf die Straße brachte von organisierten Faschisten über Liberale bis hin zu Linksradikalen.

Das Interview entstand unter dem direkten Eindruck der Protestwelle, die mittlerweile wieder abgeebbt ist. Für die Corona-Infektionen in Serbien gilt das nicht.

Dennoch denken wir, dass die Einschätzungen aus Belgrad auch für die hiesige sozial-revolutionäre Linke von Interesse sind: Unter anderem, weil politischen Entwicklungen auf dem Balkan, abseits von liberalen Bürgerrechtsdiskursen, häufig wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Etwas mehr Austausch über die Dynamik sozialer Eruptionen unter rechter Hegemonie und die Möglichkeiten einer (linksradikalen) Kritik im Handgemenge wäre durchaus wünschenswert.

Nicht zuletzt wäre die Frage, wie das kommunistische Projekt in „post-sozialistischen Transformationsländern“ zu aktualisieren ist, ernsthaft zu debattieren. Womit nicht nur das Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, sondern explizit auch das der DDR zu begreifen wäre.

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F: Könntest du eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse geben, die zu den jüngsten Protesten geführt haben?

A: Um es kurz zu fassen: die Proteste begannen als eine Reaktion auf die Entscheidung der Regierung, einen erneuten Lockdown am 7. Juli zu verhängen. Es begann mit einer kompletten Ausgangssperre am darauf folgenden Wochenende. Die Hauptmotivationen waren allerdings weit entfernt von einem typischen Anti-Lockdown-Protest, wie er in Deutschland stattfindet. Obwohl die Beweggründe der rund 12.000 Menschen, die sich am Tag der Verhängung des Lockdown vor der Nationalversammlung versammelten, sicherlich heterogen waren und eine rechtsgerichtete, verschwörungstheoretische Komponente aufwiesen, war der Protest im Wesentlichen ein spontaner Ausbruch von Volkszorn. Er richtete sich vor allem gegen die leichtfertige und unverantwortliche Art, in der die SNS1-Regierung in den letzten Monaten mit der Pandemie umgegangen ist, sowie gegen den allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Zustand Serbiens. Das wahrscheinlich wichtigste Ereignis war der Bericht des BIRN, eines Netzwerks für investigative Berichterstattung, über das wahre Ausmaß der Pandemie im Monat vor den Parlamentswahlen vom 21. Juni: Angeblich wollte die SNS-Regierung die Zahl der Infizierten verringern und erklärte ein vorzeitiges Ende der Lockdown-Maßnahmen, um ihren „Sieg“ über das Virus als Wahlkampfstütze zu nutzen. In der Tat wurde die Situation fast unmittelbar nach dem erdrutschartigen Sieg der SNS, die 2/3 der Sitze im Parlament einnahm, erneut als „äußerst kritisch“ erklärt und eine Rückkehr zu drakonischen Lockdown-Maßnahmen angekündigt.

F: Wie hat die Regierung auf die Pandemie reagiert? Wie ist der Zustand des serbischen Gesundheitswesens?

A: Insgesamt war die Reaktion der Regierung alles andere als konsequent oder verantwortungsbewusst. Berichten zufolge – und schließlich von Mitgliedern des Krisenstabes selbst bestätigt – traten die ersten Fälle von COVID-19 in Serbien schon im Dezember/Januar auf, aber der erste offizielle Fall des Virus trat erst am 6. März auf. Anfangs versuchte die Regierung, die Pandemie als Witz herunterzuspielen, um die Kreisläufe des Kapitals nicht zu unterbrechen. Das prominenteste Mitglied des Krisenstabes war Branimir Nestorović, ein umstrittener Promi-Arzt, der eine Reihe von Erklärungen abgab, wie z. B., dass das Virus nur so tödlich wie eine normale Grippe sei, dass es nichts zu befürchten gäbe, weil die Italiener einfach schwach und den Serben genetisch unterlegen seien, und dass Frauen die Gelegenheit nutzen sollten, nach Mailand zu reisen und Designer-Kleidung im Angebot zu kaufen. Nach einer Woche wurde die Situation jedoch offensichtlich zu kritisch, Nestorović wurde aus der Öffentlichkeit verdrängt, der offizielle Notstand ausgerufen und für die nächsten zwei Monate drakonische Lockdown-Maßnahmen eingeführt. Diese wurden durch ein beträchtliches Maß an polizeilicher Repression gestützt, nur um einen Monat vor den Wahlen beendet zu werden, zusammen mit einer verfrühten Ankündigung, dass das Virus praktisch „besiegt“ sei.

Das Gesundheitswesen ist ständig überlastet und nicht in der Lage, die Zahl der Infizierten effektiv zu bewältigen, und es herrscht ein Mangel an Beatmungsgeräten und PCR-Tests. Ich bin aber sicher, dass dies nicht unvermeidlich war: Der Gesundheitssektor ist stark unterfinanziert, und vieles davon hätte vermieden werden können, wenn die Regierung konsequent eine verantwortungsvollere Pandemie-Politik durchgeführt hätte.

F: Die Proteste dauerten mehrere Tage. Kannst du den Ablauf der Ereignisse schildern?

A: Gleich am ersten Tag warf die faschistische Gruppe „dostojni srbije“ unter der Führung von Srđan Nogo, Molotow-Cocktails auf die Nationalversammlung und sprengte die Eingangstür mit Schusswaffen auf, angeblich im Versuch, sie zu stürmen und zu übernehmen. Aber im Grunde passierte nichts, als sie drin waren und es gibt gute Gründe zu glauben, dass das alles eine falsche flag-Aktion der Polizei war, um ihr weiteres Vorgehen zu rechtfertigen. Ihre Reaktion war außerordentlich gewalttätig, mit Wolken aus Tränengas, die sich kilometerweit über das gesamte Stadtzentrum verteilten, Reiterstaffeln, mit Schlagstöcken bewaffnete Polizist*innen, die jede*n Anwesende*n in der Nähe der Versammlung verprügelten und willkürliche Verhaftungen. Dies löste im ganzen Land eine sofortige Empörung aus. In Städten und Ortschaften außerhalb Belgrads kam es buchstäblich über Nacht zu Solidaritätsprotesten.

Der zweite Tag war geprägt von einer gewalttätigen Reaktion der Massen auf die Brutalität, mit Straßenschlachten und Gewalt gegen die Polizei in der gesamten Innenstadt Belgrads. Die Antwort der Polizei war möglicherweise noch brutaler als am Vortag. Während einige der gewalttätigen Vorfälle gegen die Polizei wahrscheinlich von Rechtsextremen inszeniert wurden, reagierten die Liberalen, die bei den Protesten waren, so, dass sie alle Fälle von Ausschreitungen als polizeiliche Provokation bezeichneten, die ihre Brutalität rechtfertigen sollte und es wurde versucht, die Proteste am dritten Tag in ein gandhihaftes, gewaltloses Sit-in zu verwandeln. Die unglaublich unentschlossene Atmosphäre am dritten Protesttag trug nur dazu bei, dass sich die Rechtsextremen in den folgenden Tagen als die dominierende Kraft des Protestes durchsetzen konnten. Sie präsentierten sich oberflächlich mit einer Aura der Militanz, die von vielen Protestierenden gewünscht wurde. Dennoch nahm die Zahl der Protestierenden aufgrund der Frustration über die zunehmend zahnlose Performativität der Proteste, der Präsenz von Rechtsextremisten und der Angst vor Polizeirepressalien schnell ab. Bereits am Ende der Woche konnten die Proteste kaum mehr als tausend Menschen zusammenbringen.

Doch während die zentrale Protestwelle abklang, gab es eine Art Fortsetzung in Form von Solidaritätsprotesten mit den verhafteten Demonstranten, angeführt vom linken Flügel. Dies dauerte jedoch auch nur eine Woche.

F: Wer waren die einflussreichsten Gruppen auf der Straße?

A: In den ersten Tagen vertrieben die Demonstrant*innen, wegen der vorherrschenden militant anti-politischen Stimmung jede*n gewaltsam, die/den sie mit Oppositionsparteien identifizierten. Trotzdem kamen Nogos „dostojni srbije“ und die ihnen nahestehende anti-migrantische Bürgerwehr „narodne patrole“ (Volkspatrouillen) ungehindert durch, da es ihnen an sichtbaren parlamentarischen Ambitionen fehlte, was sie mit einem zerstreuten Vorgehen kombinierten. Obwohl sie über eine starke Protest-Infrastruktur verfügten, versuchten sie nicht, sich als einheitlicher Block oder eine eingreifende politische Organisation zu präsentieren – sie waren in der Menge verteilt, ohne klare politische Kennzeichnung, und gaben vor, lediglich eine spontane Ansammlung „besorgter Bürger“ zu sein. Ich glaube aber nicht, dass ihre Positionen für mehr als eine deutliche Minderheit der Protestierenden repräsentativ waren, wie der dramatische Rückgang der Zahlen zu dem Zeitpunkt zeigt, als sie den Protest eindeutig übernahmen. Zu diesem Zeitpunkt war auch die anfängliche militante Opposition gegenüber Oppositionspolitiker*innen verschwunden, so dass sich auch rechte Parteien wie „Dveri“ oder „Dosta je bilo“ (Es reicht) dem Protest anschließen konnten. Zum Glück blieb ihnen nicht mehr viel übrig, aus dem sie Kapital schlagen konnten.

F: Kannst du die Rolle von Nationalist*innen oder Faschist*innen bei den Protesten und ihr Verhältnis zu Polizei und Staat beschreiben?

A: Es gibt Fotos und Berichte von Vorfällen wie etwa von Srđan Nogo, wie er die Polizeikräfte anweist, wen sie angreifen sollen und wen nicht, oder von Menschen mit Polizeifunkgeräten unter den Randalierenden. Es ist nicht ganz klar, warum sie in diesem speziellen Fall kooperierten, aber es gibt eine gut dokumentierte Geschichte der Zusammenarbeit zwischen der Polizei und der extremen Rechten in Serbien. Vor allem während der letzten dreißig Jahre wurden rechtsextreme Fußball-Ultragruppen dazu benutzt, Proteste gewaltsam zu zerschlagen, damit sich die Polizei nicht selbst die Hände schmutzig machen musste. Ultragruppen waren bei diesen Protesten ebenfalls anwesend, allerdings dem Anschein nach, in den Reihen der Demonstranten.

F: Welche Gruppen der politischen Linken waren während der Proteste relevant? Waren sie in der Lage, die Ereignisse positiv zu beeinflussen?

A: Marks21, eine trotzkistische Gruppe, versuchte, einen geschlossenen „linken Block“ mit sichtbaren linken Plakaten und Symbolen zu organisieren. Die unbeholfene Herangehensweise führte jedoch dazu, dass sie aufgrund der von mir erwähnten anti-politischen Stimmung der Protestierenden vertrieben wurden. Ich würde jedoch nicht sagen, dass es bei den Protesten auch nur annähernd eine nennenswerte spontane antisozialistische oder antikommunistische Stimmung gab. Ich persönlich habe mich mit einer losen Gruppe von Aktivist*innen zusammengetan, die versuchten, als „offizielle“ Forderungen des Protests eine Liste von vier klaren sozialen Forderungen zu propagieren. Diese standen größtenteils im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise und stießen auf eine sehr positive Resonanz. Es ging dabei um die Umleitung von Polizeigeldern in das Gesundheitswesen, die Transparenz von Informationen von öffentlicher Bedeutung und um weitere gesetzliche Beschränkungen der polizeilichen Gewaltanwendung und erhöhte Sozialhilfe, sowie um Maßnahmen gegen Entlassungen.

Die Proteste in Novi Sad wurden zudem von lokalen linken Aktivist*innen angeführt, die versuchten, die Infrastrukturketten zu sabotieren, indem sie die Autobahn blockierten. Die späteren Solidaritätsproteste mit den inhaftierten Demonstrant*innen wurden ebenfalls von der Belgrader Linken organisiert: der im Entstehen begriffenen breiten „Partei der radikalen Linken“, den bereits erwähnten Marks21 und mehreren Basisgruppen.

F: Es waren nicht die ersten Proteste gegen die Vučić Regierung. Gab es diesmal einen signifikanten Unterschied zu den Protesten seit 2018, vor der Pandemie?

A: Der erste große Anti-Vučić-Protest fand 2017 statt, aber ich denke was die diesjährigen Proteste von denen 2017 oder 2018/19 unterscheidet, war eine viel ausgeprägtere soziale Komponente. Diese manifestierte sich in der Bereitschaft zum Aufstand, sowie in einem beträchtlichen Desinteresse an den üblichen halbherzigen politischen Forderungen der früheren liberalen Protestbewegungen. Es ging dabei z.B. um eine faire Medienvertretung für Oppositionspolitiker*innen, die Wiederholung von Wahlen, den Rücktritt einzelner politischer Vertreter*innen usw. Die Grenzen der liberalen Protestkultur wurden deutlich überschritten, sowohl in der Form als auch inhaltlich. Ich denke, dass diese Proteste im Geiste dem oft übersehenen Protest gegen die gestiegenen Benzinpreise im Sommer 2018 näher kamen (dieser war den Gelbe-Westen-Protesten extrem ähnlich, ging ihm aber um einige Monate voraus). Damals haben Tausende von Autobesitzer*innen wichtige Verkehrsknotenpunkte im Land blockiert und versuchten, eine breite auf der Arbeiterklasse basierende Protestfront gegen die schlechte Wirtschaftslage zu bilden.

F: Da Serbien im Zentrum des Balkans mit direkten Grenzen zur Europäischen Union liegt, spielt es eine wichtige Rolle für geopolitische Strategien verschiedener Weltmächte. Kannst du erklären, welche Nationalstaaten beteiligt sind und welche Interessen sie verfolgen?

A: Für die Weltmächte ist Serbien aus zwei wesentlichen Gründen von strategischer Bedeutung: als Quelle billiger, qualifizierter Arbeitskräfte und als Transitknoten. Während Ersteres kein Hauptkonfliktpunkt ist und es Kapitalinvestoren aus der ganzen Welt gibt, war Letzteres schon immer ein Streitpunkt. Der offensichtlichste aktuelle Fall ist wohl das russische South-Stream-Gaspipeline-Projekt. Seit der Annullierung des ursprünglichen South-Stream-Projekts scheint Russland jedoch seine diplomatische Präsenz stetig verringert zu haben. Die Europäische Union, obwohl sie ihre Expansionspläne auf Eis gelegt hat, ist in Serbien nach wie vor konsequent präsent, wobei die gesamteuropäischen Korridore von besonderer Bedeutung sind. Ein neuer, wichtiger Akteur ist China, wobei Serbien 2019 der Belt and Road Initiative2 beitrat und mehrere wichtige Partnerschaften sowohl mit der chinesischen Regierung als auch mit Unternehmen wie Huawei eingegangen werden.

F: Hast du die Reaktionen dieser Mächte auf die Pandemie, im Hinblick auf die Situation in Serbien und auf die jüngsten Proteste beobachtet?

A: Serbien erhielt beträchtliche Mengen an medizinischer und monetärer Hilfe aus der ganzen Welt. Aus nicht ganz klaren Gründen wurde jedoch aus dem chinesischen Hilfspaket ein unverhältnismäßiges Spektakel gemacht. Das ging so weit, dass überall in Belgrad Xi Jinping Plakate aufgestellt wurden, obwohl das Hilfspaket kleiner war als das der EU. Obwohl die EU-Beamt*innen darüber verärgert waren, änderte dies nichts an ihrer allgemein positiven Haltung gegenüber Präsident Vučić und der regierenden SNS. Daran änderten auch die Proteste nichts: Die EU ging nicht über ein paar vage und unglaublich halbherzige Erklärungen der „Besorgnis“ über die Polizeibrutalität hinaus, ähnlich wie die Reaktion der USA. Die meisten anderen Weltmächte schwiegen. Es gab mehrere Theorien darüber, dass die Proteste zum Teil eine geopolitische Spielwiese zwischen den Großmächten im Zusammenhang mit den laufenden Verhandlungen über den Status des Kosovo waren. Rückblickend glaube ich jedoch nicht, dass sie Bestand haben.

F: Es herrschte eine sehr strenge Abriegelung des öffentlichen Lebens, wahrscheinlich gefolgt von massiv steigender Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig ist das Gesundheitssystem in einem schlechten Zustand. Gab es als Reaktion auf die Krise Versuche der Selbstorganisation?

A: Bemerkenswert ist, dass „Zakrov nad glavom“3 (Gemeinsame Aktion Dach über dem Kopf), ein linkes Mietersolidaritätsnetzwerk mit Zweigstellen in mehreren Städten, eine COVID-19-Hilfskampagne durchgeführt hat: Sie suchten Obdachlosen Unterschlupf und versorgten besonders gefährdete Menschen mit Lebensmitteln. Es gab auch völlig basis-orientierte lokale Hilfsinitiativen, die sich über das Internet koordinierten, was sehr erfreulich ist.

Es ist wahrscheinlich auch wichtig, die großen Studierendenproteste zu erwähnen, die sich etwa eine Woche vor der Hauptprotestwelle ereignet haben. Diese wurden durch die Entscheidung ausgelöst, Studierendenwohnheime in Belgrad dringend zu evakuieren, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie von dem Virus befallen waren, und alle nach Hause zu schicken. Das war bereits das zweite Mal in diesem Jahr. Natürlich waren die Studierenden hauptsächlich besorgt, dass es eine Gefährdung ihrer Familienangehörigen zu Hause bedeuten würde. Die Proteste waren tatsächlich ein Erfolg, und die Studierenden durften in den Wohnheimen bleiben.

F: Im Jahr 2017 wurde Serbien von einer Welle von Streiks und Arbeitskämpfen (z.B. bei FIAT4) erschüttert. Hat es während der Pandemie irgendwelche Arbeitskämpfe gegeben?

A: Ja, vor allem die Beschäftigten der südkoreanischen Yura-Elektronikfabrik5 in Leskovac, die für ihre schrecklichen Arbeitsbedingungen berüchtigt ist, haben im April einen wilden Streik begonnen. Sie forderten, von der Arbeit freigestellt zu werden, nachdem die Fabrik als einer der wichtigsten COVID-19-Brennpunkte gemeldet worden war. Leider wurde der Streik schnell niedergeschlagen. Im Laufe des Frühjahrs und Sommers wurden mindestens 15.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in ganz Serbien entlassen. Viele von ihnen arbeiteten bei großen ausländischen Unternehmen wie Benneton oder Hutchinson, die versuchten, ihre Kosten zu senken. In solchen großen Betrieben kam es zwar zu Protesten der entlassenen Arbeiterinnen und Arbeiter, aber ohne großen Erfolg.

F: Wie haben die Pandemie und die daraus resultierende Wirtschaftskrise die Rolle der Gewerkschaften in diesen Konflikten verändert?

A: Ich würde nicht sagen, dass es eine qualitative Veränderung gegeben hat – schließlich sind die Gewerkschaften ein institutionalisierter Vermittler zwischen dem Staat und der Arbeiterklasse, der sowohl zur Eindämmung der Klassenrevolte, als auch zur Durchsetzung einiger begrenzter Interessen der Klasse eingesetzt wurde. Allerdings haben die Gewerkschaften während dieser Krise so ziemlich vollständig vor dem Staat kapituliert und alle Revolten fanden unabhängig von ihnen statt.

F: Gab es eine Reaktion der Regierung auf die laufenden Arbeitskämpfe? Wurden Zugeständnisse gemacht oder war die Reaktion repressiver Natur?

A: Es gab lediglich ein Konjunkturpaket von 100 Euro für jede/n erwachsene/n Bürger*in, mit dem die Wirtschaft unabhängig von jeglichen Arbeitskämpfen am Leben erhalten werden sollte. Ansonsten gab es keine wirklichen Zugeständnisse. Den Arbeitgeber*innen wurde erlaubt, mit den Entlassungen fortzufahren, obwohl sie mit einem Konjunkturpaket davon abgehalten werden sollten. Einige der lautstärksten, streikenden Arbeiter und Arbeiterinnen, wie die bei Yura, wurden von ihrem jeweiligen Unternehmen in Zusammenarbeit mit der Regierung wegen „Desinformation“ und anderer Vergehen zur Zielscheibe gemacht. Während der Staat insgesamt nicht direkt eingriff, wurde den Kapitalist*innen bei der Unterdrückung der Arbeitskämpfe völlig freie Hand gelassen.

F: Seit der Schließung der ungarischen Grenzübergänge sind viele Flüchtlinge in Serbien gestrandet. Kannst du deren Situation und die Auswirkungen der Pandemie veranschaulichen?

A: Die Geflüchteten wurden in überlasteten Aufnahmezentren zusammengepfercht, mit schlechtem Zugang zu medizinischer Versorgung. Sie wurden im Grunde genommen gezwungen, dort wie in einem Gefängnis zu bleiben, aus Angst, Geflüchtete könnten das Virus verbreiten. Polizei und Militär organisierten Suchpatrouillen, nahmen Geflüchtete fest und steckten sie wahllos in Lager. Besonders schlimm ist die Lage im Norden des Landes, nahe der ungarischen Grenze. Angeblich will Serbien an der mazedonischen Grenze einen Zaun bauen, um Geflüchtete daran zu hindern, über diese Route zu kommen.

F: Denkst Du, dass (das Gebiet des ehemaligen) „Jugoslawien“ immer noch ein nützlicher Bezugsrahmen für die Linke auf dem Balkan ist? Oder sind die nachfolgenden Nationalstaaten durch Nationalismus unüberwindlich gespalten und durch ihre Mitgliedschaft in verschiedenen Bündnissen (EU, NATO) entzweit, sodass es inzwischen nur noch Nostalgie ist?

A: Für die meisten Dinge, die über rein symbolische, gemeinsame Erklärungen oder regionale, akademische/NGO Konferenzen hinausgehen, gibt es, glaube ich, leider nicht viel Raum. Der größte Teil des ehemaligen Jugoslawiens hat eine gemeinsame serbokroatische Sprache. Dies erleichtert die Kommunikation und ermöglicht regionale Agitprop-Plattformen, ohne auf Englisch zurückgreifen zu müssen. In der Praxis macht es jedoch an diesem Punkt in etwa so viel Sinn, es als gemeinsamen politischen Bezugsrahmen zu verwenden, wie wenn man Deutschland, Österreich und die Schweiz ebenfalls in einen einzigen Bezugsrahmen packen würde. Jedes ex-jugoslawische Land ist mittlerweile ein eigenständiger Nationalstaat, und die meisten tatsächlichen Fälle, in denen Politik über die Staatsgrenzen hinaus geht, basieren bloß auf ethnischer Zugehörigkeit. Regionale, internationale Solidarität wird von Grund auf neu aufgebaut werden müssen, aber ich denke, dass wir den Ruf nach einem „neuen Jugoslawien“ unbedingt vermeiden müssen. Vergessen wir nicht, dass Jugoslawien immer noch ein (pan-)nationalistisches Projekt war und dass sein pan-slawischer Charakter der systematischen Diskriminierung von Albaner*innen und anderen Nichtslaw*innen auf seinem Territorium ideologische Nahrung gab.

F: Gegenwärtig erleben wir aufgrund der Pandemie eine schwere weltweite Wirtschaftskrise. Das gesamte Ausmaß dieser Krise ist noch nicht klar. Was erwartest Du für, sagen wir, die nächsten ein oder zwei Jahre?

A: Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler und kann nicht sagen, dass ich ausreichend informiert bin, um eine Prognose über das Ausmaß der Krise oder all ihre konkreten Auswirkungen zu geben. Was jedoch ziemlich sicher erscheint, ist, dass die geopolitische und wirtschaftliche Lage Chinas, das offenbar am wenigsten von der Krise betroffen ist, noch weiter an Bedeutung gewinnen wird. Dies wird sich zwangsläufig auch auf den Balkan auswirken. Vučić ist sich dessen wahrscheinlich voll bewusst, angesichts der plötzlichen deutlichen Versuche, sich China anzunähern. Ich kann mir leicht ein Szenario vorstellen, in dem Serbien zum wirtschaftlichen und diplomatischen Vorposten Chinas in Europa werden könnte.

F: Wie könnten wir in Deutschland die laufenden Kämpfe der Genoss*innen in Belgrad oder generell in Serbien unterstützen?

A: Ich weiß nicht, wie es in Deutschland aussieht, aber was mir aufgefallen ist, ist, dass ein bedeutender Teil der internationalen Linken – meist sind es stalinistisch ausgerichtete Stimmen – die Idee verbreitet, dass Vučić effektiv und verantwortungsbewusst mit der COVID-19-Pandemie umgeht. Ich halte es für wichtig, mit diesem Mythos zu brechen – die Bourgeoisie und die Politiker*innen sind nicht unsere Verbündeten, ganz gleich, von welchem Teil der Welt wir sprechen. Ansonsten ist es wahrscheinlich gerechtfertigt, „Zakrov nad Glavom“ (Gemeinsame Aktion Dach über dem Kopf) und „Solidarna Kuhinja“6 (Soliarische Küche) noch einmal nachdrücklich für die großartige Arbeit der Selbstorganisation während dieser Krise zu loben. Obwohl ich persönlich kein Mitglied bin, wüsste ich nicht, wie eine Vermittlung von Verbindungen zu Netzwerken oder Organisationen, die an ähnlichen Projekten arbeiten, schaden könnte.

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Wer sich für eine detailliertere Darstellung der Ereignisse interessiert, kann hier fündig werden:

https://de.crimethinc.com/2020/07/13/serbien-die-neueste-front-der-covid-19-revolten-anarchistische-perspektive-aus-belgrad-1

Für (anarchistische) Perspektiven aus Serbien zu Historie und Zeitgeschehen empfehlen wir das Zeitschriftenprojekt Antipolitika: https://antipolitika.noblogs.org/

Fußnoten

1 Die serbische Fortschrittspartei (serbisch: Srpska napredna stranka, SNS) ist eine rechtskonservative und nationalistische politische Partei.

2 Die Belt and Road Initiative bündelt Chinas Projekte zum Ausbau interkontinentaler Handelsnetze. Unter dem Dach von BRI wird bspw. gezielt in Infrastruktur-Projekte investiert.

3 Zakrov nad glavom ist ein selbstorganisiertes Kollektiv, dass sich 2017 gründete und sich für das Recht auf ein Zuhause einsetzt. Website: https://zakrovnadglavom.org/

4Siehe auch: https://www.labournet.de/internationales/serbien/arbeitskaempfe-serbien/fiat-droht-den-streikenden-in-serbien-mit-werksschliessung/

5Siehe auch: https://www.brexitblog-rosalux.eu/2020/04/16/the-maltreatment-of-workers-in-serbia-during-the-pandemic/

6 Solidarna Kuhinja ist eine Initiative, die Menschen in der COVID-19 Krise Lebensmittel und andere Hilfe anbietet. Website: https://solidarnakuhinja.org/solidarity-kitchen/

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